Zum Nationalen Aktionstag Alkoholprobleme wagt Arbeitsagoge Adrian Sami vom Schloss Herdern einen anderen Blick auf Sucht, Vielfalt und Menschlichkeit. In der sozialen Institution aus dem Kanton Thurgau leben Menschen mit sehr unterschiedlichen Lebensgeschichten – mit und ohne Suchtproblematik. Was sie verbindet, ist das Bedürfnis nach einem Ort, der Halt, Struktur und Würde bietet.
Alkohol gehört in der Schweiz zum Alltag. Er begleitet gesellschaftliche Anlässe, geschäftliche Treffen und private Rituale. Der Griff zum Glas ist gesellschaftlich nicht nur akzeptiert, sondern oft ein selbstverständlicher Teil des sozialen Lebens. Doch was passiert, wenn aus dem gelegentlichen Konsum eine Abhängigkeit entsteht – und aus einem Menschen ein «Suchtbetroffener» wird? Dann beginnt ein Weg, der häufig in Isolation, Ausgrenzung und Stigmatisierung endet.
Zwischen Doppelmoral und Absturz
«Eigentlich sind wir ein Spiegel unserer Gesellschaft», sagt ein Mitarbeiter von Schloss Herdern. «Der Konsum von Alkohol wird in vielen Bereichen idealisiert – aber sobald jemand den Halt verliert, heisst es schnell: selbstverschuldet.»
Diese Doppelmoral prägt den gesellschaftlichen Umgang mit Suchtverhalten. Was vorher als Teil des normalen Lebens galt, wird im Moment des Absturzes zum moralischen Fehltritt erklärt. Aus Mitmenschen werden «Fälle».
Ein anderer Weg: Leben ermöglichen statt verurteilen
Schloss Herdern verfolgt einen bewusst niederschwelligen, nicht-abstinenzorientierten Ansatz. Das bedeutet: Die Bewohnerinnen und Bewohner werden nicht auf ihre Sucht- oder Krankheitsgeschichte reduziert. Sie erhalten ein stabiles Wohnumfeld, eine sinnvolle Tagesstruktur, Arbeitsmöglichkeiten und vor allem eine respektvolle Haltung – unabhängig davon, ob sie abstinent leben oder nicht, ob sie mit einer psychischen Erkrankung oder ohne spezifische Diagnose bei uns wohnen.
«Wir begegnen den Menschen dort, wo sie stehen – mit Respekt und ohne moralischen Zeigefinger.»
Eine stille Gesellschaftskritik
Viele der rund 80 Bewohnerinnen und Bewohner leben seit Jahren, teils Jahrzehnten in Schloss Herdern. Das ist nicht Ausdruck von Abhängigkeit von der Institution, sondern von Stabilität in einem Leben, das oft lange von Brüchen geprägt war.
Zum Nationalen Aktionstag Alkoholprobleme möchte Schloss Herdern nicht mit dem Finger zeigen, sondern zum Nachdenken anregen: Ist es wirklich das individuelle Scheitern – oder ein gesellschaftliches Versagen, wenn Menschen durch die Maschen fallen?
Alkohol betrifft uns alle
Der Alkohol selbst ist nicht das Problem – es ist unser Umgang damit. Wer den Halt verliert, sollte nicht abgestempelt werden, sondern Unterstützung erhalten.
Schloss Herdern zeigt: Würde beginnt nicht bei Abstinenz. Sie beginnt mit einer Haltung, die den Menschen sieht – in seiner Vielfalt, mit seiner Geschichte und seinem Potenzial.
Der Autor:
Adrian Sami ist Abteilungsleiter Werkstätten bei Schloss Herdern. Der Arbeitsagoge hat früher auf Baustellen gearbeitet und miterlebt, wie in gewissen Berufsgattungen das Feierabendbier ein selbstverständlicher Teil des Alltags ist. Ein Ritual, das zu seinem Erstaunen damals niemand hinterfragt hat. Adrian Sami möchte darauf aufmerksam machen, wie dringend unsere Gesellschaft einen bewussteren, reflektierten Umgang mit Alkohol braucht.